In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist in jüngerer Zeit die Tendenz zu beobachten, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall auch bei gesetzlich zwingend angeordneter Rechtsfolge durchzuführen. Das wirft grundsätzliche Fragen der Gesetzesbindung und Gewaltengliederung auf.
Das Werk arbeitet diesen Befund systematisch auf und entwickelt insbesondere Kategorien, die es ermöglichen, Scheinprobleme von solchen Fällen zu unterscheiden, in denen ein von den Gerichten angenommener, verfassungsrechtlich begründeter Verhältnismäßigkeitsvorbehalt tatsächlich in Konflikt mit der gesetzgeberischen Regelung tritt. Weiterhin werden die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers sowie die Norm des Art. 100 GG als wichtige Schaltstellen identifiziert, die bestimmen, wie weit ein Verhältnismäßigkeitsvorbehalt bei gebundenen Entscheidungen reichen kann.
englischThis study examines the recent tendency of German administrative courts to apply the principle of proportionality to decisions where the text of the legal norm does not leave much room for such an examination. Such a proportionality test may be motivated by the intention to consider and weigh up any relevant aspects of a case and thus provide for (individual) justice. However, this approach has to be critically assessed as regards its impact on the separation of powers, legal certainty and the predictability of legal decisions. In order to reconcile these interests, this study explores to what extent the aim of providing for individual justice should be pursued by legislators or by the authorities that apply the law.